Daguerre: Der Ahnherrn der Fotografie

Daguerre: Der Ahnherrn der Fotografie
Daguerre: Der Ahnherrn der Fotografie
 
Louis Jacques Mandé Daguerre wurde am 18. November 1787 als Sohn von Louis Jacques und Anne Antoinette Daguerre, geborene Hauterre, in Cormeilles-en-Parisis im Department Val-d'Oise geboren. 1790 erhielt der Vater eine Stelle am Gericht in Orléans, 1792 zog die Familie nach. Der junge Daguerre besuchte die öffentliche Schule und kam wegen seiner zeichnerischen Begabung zu einem Architekten in die Lehre. 1804 ging er nach Paris und arbeitete bei Ignace Eugène Marie Degotti (✝ 1824), einem Bühnenbildner an der Pariser Oper. Drei Jahre später wurde Daguerre zumindest zeitweilig Mitarbeiter von Pierre Prévost (1764—1823), der Panoramen malte und vorführte. Diese Rundgemälde wiesen eine Fläche von 1 000 bis 2 000 m2 auf, waren in eigenen Gebäuden ausgestellt und erfreuten sich während des 19. Jahrhunderts großer Beliebtheit. Im Salon von 1814 wurde erstmals ein Gemälde von Daguerre ausgestellt, im Jahr darauf erhielt er den Auftrag, den Bühnenvorhang des Théâtre Feydeau zu malen. 1816 begann der Künstler als Bühnendekorateur im Théâtre de l'Ambigu-Comique, einem der ältesten und bekanntesten kleineren Pariser Häuser. Seine Entwürfe fanden begeisterte Zustimmung, sodass er ab 1820 zusätzlich als einer der Chefdekorateure neben seinem Lehrmeister Degotti an der Oper wirken konnte. Von 1816 bis 1822 entwarf Daguerre die Ausstattung für rund 13 Stücke.
 
Diese Bühnenbilder machten Daguerre zu einer bekannten Figur — auch über die Grenzen Frankreichs hinaus —, und es gelang ihm, Geldgeber für ein Projekt (das Diorama) zu finden, an dessen Verwirklichung er ab 1821 gemeinsam mit Charles Marie Bouton (1781—1853), einem Architekturmaler und ehemaligem Mitarbeiter von Prévost, arbeitete. Beim Diorama blickte der Zuschauer durch einen schwarzen Tunnel auf ein ungefähr 15 Meter entferntes Transparentbild. Mit dem Wechsel von Auflicht und Durchlicht, durch Variation der Lichtquellen und Hervorhebung einzelner Partien stellte sich die Illusion der Bewegung und eines zeitlichen Ablaufs ein. Nach einer Viertelstunde drehte sich die Plattform, auf der das Publikum Platz genommen hatte, um die eigene Achse, und es eröffnete sich durch einen weiteren Tunnel die Sicht auf ein anderes Bild und ein neues Schauspiel. Das Diorama, das am 11. Juli 1822 in der Rue Sanson eröffnet wurde, bestand aus drei Bildbühnen und bot rund 300 Besuchern Platz. 1834 ersannen Daguerre und sein damaliger Assistent Hippolyte Victor Valentin Sébron (1801 bis 1879) das Doppeleffekt-Diorama, bei dem zwei abweichende Bilder auf Vorder- und Rückseite des Stoffes aufgemalt waren. Indem unterschiedlich lichtdurchlässige Farben aufgetragen worden waren, schienen sich je nach Lichtspiel Menschengruppen, Wolken oder Bäume im Wind zu bewegen. Insbesondere die Vorführungen von Bewegung auf einer zweidimensionalen Fläche wurden als sensationell empfunden, auch wenn es sich häufig um die Darstellung alltäglicher Vorgänge handelte. Am 8. März 1839 fiel das Pariser Diorama einem Brand zum Opfer.
 
 Die Erfindung der Daguerreotypie
 
Bereits während seiner Tätigkeit bei Prévost hatte Daguerre den Wert der Camera obscura für perspektivisches Zeichnen kennen gelernt. Auch bei der Herstellung der Theaterdekorationen verwendete er sie und suchte ab 1824 nach einer Möglichkeit, die Bilder der Mattscheibe zu fixieren. Von Charles Chevalier (1804—1859), in dessen Geschäft sich Daguerre des Öfteren aufhielt, erfuhr er, dass Joseph Nicéphore Niepce in Gras ebenfalls nach einer Methode suchte, Bilder für immer festzuhalten. Im Januar 1826 begann Daguerre einen Briefwechsel mit Niepce. Der nach dem Aufenthalt von Niepce in England unterbrochene Kontakt wurde 1828 wieder aufgenommen, und im Oktober 1829 erhielt Daguerre die Probe einer Heliographie mit einer Ansicht »nach der Natur«. Ihm selbst war bis dahin nicht gelungen, auch nur ein einziges Bild hervorzurufen. Er bot Niepce an, die Verbesserung und Verwertung der Erfindung gemeinsam zu betreiben, worauf es zwischen beiden zu einem Vertrag kam, der am 14. Dezember 1829 geschlossen wurde. Bestandteil des Vertrages war die Offenlegung des heliographischen Verfahrens gegenüber Daguerre, der auf dieser Grundlage in seinem Pariser Laboratorium weitere Experimente anstellte.
 
Am 21. Mai 1831 teilte Daguerre mit, dass er die Lichtempfindlichkeit von Jodsilber festgestellt habe. Doch erst nach dem Tod von Niepce gelangen ihm nach einer Belichtungszeit von rund einer halben Stunde Bilder, die durch Einwirkung von Quecksilberdämpfen halbwegs lichtbeständig waren. Daraufhin vereinbarte Daguerre mit dem Sohn seines früheren Partners, Isidore Niepce (1805—1868), einen Zusatzartikel zum bestehenden Vertrag, der bestimmte, dass die gemeinsame Gesellschaft künftig nicht mehr unter dem Namen »Niepce-Daguerre«, sondern unter »Daguerre ' Isidore Niepce« firmieren sollte. Im Mai 1837 fand Daguerre unter Verwendung einer Kochsalzlösung endlich einen Weg zur permanenten Fixierung des Bildes. In einem neuen Abkommen vom 13. Juni 1837 erreichte er, dass das Verfahren wegen der von ihm geleisteten Verbesserungen in Zukunft ausschließlich seinen Namen tragen sollte.
 
Ende 1838 wandte sich Daguerre an mehrere Wissenschaftler in der Hoffnung, öffentliche Institutionen als Interessenten zu gewinnen. Der Physiker, Astronom und Politiker François Dominique Jean Arago (1786—1853) begeisterte sich für die Erfindung und machte der Akademie der Wissenschaften in einer Sitzung am 7. Januar 1839 Mitteilung. Nachdem das Diorama abgebrannt war und Daguerre nahezu mittellos dastand, konnte Arago den Innenminister Tannegui Duchâtel dafür gewinnen, sich für einen Ankauf durch den französischen Staat einzusetzen. Es kam zu einem vorläufigen Vertrag, der als Gegenleistung für die genaue Beschreibung der Verfahren der Daguerreotypie und der Heliographie sowie des Dioramas Daguerre eine lebenslängliche Rente von 6 000 Francs und Isidore Niepce eine Rente von 4 000 Francs zusprach. Dieses Abkommen wurde Bestandteil eines Gesetzentwurfs vom 14. Juni 1839, der beiden Kammern zur Entscheidung vorgelegt werden sollte.
 
Arago referierte am 3. Juli 1839 vor der Deputiertenkammer und betonte die zukünftige Bedeutung der Daguerreotypie für die Künste und die Wissenschaften. Vier Tage später stellte Daguerre in einem Raum der Kammer mehrere Bildproben aus. Der Physiker und Chemiker Joseph Louis Gay-Lussac (1778—1850) erstattete am 30. Juli der Pairskammer Bericht und plädierte gleichfalls für die Annahme des Gesetzes. Beide stimmten zu, sodass am 19. August 1839 Arago die Einzelheiten der Erfindung in einer gemeinsamen Sitzung der Akademie der Wissenschaften und der Akademie der schönen Künste öffentlich machen konnte. Der französische Staat wolle, so der Redner, die Erfindung der Welt zum Geschenk machen. Dieser Tag gilt seither als Geburtsstunde der Fotografie.
 
 Die Verbreitung des Verfahrens
 
Seit der ersten im Januar 1839 erschienenen Zeitungsnotiz wusste man in Paris und auch außerhalb Frankreichs von der Erfindung des Daguerreotyps, wie das Verfahren damals genannt wurde. Weil bis auf Daguerre, Isidore Niepce und wenige Vertraute niemand das Geheimnis kannte und eine Vielzahl von Gerüchten und ungenauen Hinweisen kursierte, wurde die Rede Aragos am 19. August 1839 mit Spannung erwartet. Zwei Stunden vor Beginn der Sitzung waren nicht nur alle Plätze längst besetzt, sondern auch Umgebung, Hof und Vorplatz des Instituts waren mit einer dichten Menschenmenge bedeckt.
 
Nach einigen Tagen sah man überall in Paris Daguerreotypisten mit ihren Guckkästen, zu denen Physiker, Chemiker und Gelehrte sowie höhere Händler gehörten. Wenig später erschien eine Broschüre. Sie verlegte Alphonse Giroux, ein Verwandter von Louise Daguerre, dem Daguerre bereits am 22. Juni 1839 mit einer Vereinbarung die Herstellung der Kamera übertragen hatte. Die Plankonvexlinse hatte eine Brennweite von 40,6 cm und einen Durchmesser von 8,3 cm. Sehr bald bauten andere Apparatehersteller Kameras, handlicher und für kleinere Plattenformate geeignet, wie auch mehrere Verlage die Beschreibung des Verfahrens durch Daguerre veröffentlichten. Bereits Anfang Oktober 1839 erschienen eine französische Ausgabe in Genua, Mitte des Monats eine englische Übertragung in London, am 19. Oktober eine deutsche Fassung in Stuttgart. Noch bevor die Anleitung aus Paris zur Hand war, wurde an ganz verschiedenen Orten mit selbst gefertigten Apparaten und schnell hergestellten Mixturen experimentiert und Aufnahmen gemacht. In den ersten vier Wochen nach der Bekanntgabe des Verfahrens daguerreotypierte man — außer in Paris — bereits in Tübingen, Florenz, Brüssel, London, New York und anderen Städten. Waren die Versuche erfolgreich, so wurden die Ergebnisse sofort öffentlich präsentiert, nachdem eine Ankündigung in der örtlichen Presse erschienen war.
 
Auch die kommerziellen Möglichkeiten wurden rasch erkannt, bot man bereits im Herbst 1839 Daguerreotypien zum Kauf an. Der hohe Preis schloss zwar rund 95 % der Bevölkerung als Käufer aus, andererseits lockte er Geschäftsleute an, die neuen Erwerbsquellen gegenüber aufgeschlossen waren. Weil nicht jeder genügend Kenntnisse der Optik und Chemie besaß, bildeten sich häufig Allianzen aus Kaufleuten und Fabrikanten mit Wissenschaftlern und Ingenieuren, die gemeinsam an Gewinn bringenden Verbesserungen arbeiteten. Das Bündnis von Ökonomie und Naturwissenschaften — ohnehin der Motor des industriellen Fortschritts im 19. Jahrhundert — wurde auch für die Daguerreotypie zur bestimmenden Kraft ihrer Verbreitung.
 
 Die Bildwelt der Daguerreotypie
 
Daguerre — im Gedanken an die spätere finanzielle Nutznießung der Erfindung auf jede Unterstützung zählend — zeigte Besuchern gerne Bespiele seines Könnens, zumal wenn es sich um prominente oder einflussreiche Personen handelte. Am 7. März 1839 suchte ihn Samuel Finlay Breese Morse (1791—1872) auf, der Erfinder eines Schreibtelegrafen, Maler und Präsident der National Academy of Design in New York. Zwei Tage später bezeichnete er in einem Brief an seinen Bruder die Daguerreotypie als »eine der schönsten Entdeckungen des Jahrhunderts«, wobei besonders eine Aufnahme seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Es war eine der drei Ansichten des Boulevard du Temple, die Daguerre von seinem Wohnhaus aus im Frühjahr 1838 zu unterschiedlichen Tageszeiten und aus verschiedenen Stockwerken angefertigt hatte. Vermutlich wollte er die Veränderungen der Lichtverhältnisse studieren und mag an die Effekte, die im Diorama mit wechselnder Beleuchtung erzielt worden waren, gedacht haben. Doch die zeitgenössischen Betrachter faszinierte etwas ganz anderes, nämlich die Vielzahl der Kleinigkeiten, die auf dem Bild zu erkennen waren. Es wurde die berühmteste Aufnahme von Daguerre, beschrieben in zahlreichen Artikeln in der in- und ausländischen Presse. Man entdeckte eine neue Welt, die zwar täglich zu beobachten war, aber keine Beachtung fand. Die Exaktheit und Gleichmäßigkeit der Wiedergabe, bei der allen Dingen vor der Kamera derselbe Rang zugesprochen wurde, schufen eine eigene Wirklichkeit, die der tatsächlichen täuschend ähnlich war und sich doch von ihr unterschied. Zur allgemeinen Begeisterung wird beigetragen haben, dass erstmals ein Mensch abgebildet war, ein Mann, der sich die Schuhe hatte putzen lassen und daher einige Zeit ruhig stehen geblieben war, während sich die Fahrzeuge und Passanten auf der belebten Straße gleichsam aus dem Bild bewegt hatten.
 
Eine Reihe von Verbesserungen erweiterten die Anwendungsmöglichkeiten der Daguerreotypie. Eine der entscheidensten gelang dem an der Wiener Universität lehrenden Mathematiker Joseph Max Petzval (1807—1891), dessen dioptrische Berechnungen zu einer Linsenkombination führten, die eine 16fach höhere Lichtempfindlichkeit aufwies als die besten Objektive der Pariser Hersteller. Mit dem neuen, im November 1840 auf den Markt gebrachten Objektiv konnten Porträts in einer vertretbaren Zeit angefertigt werden. Vor allem das aufstrebende Bürgertum wollte ein repräsentatives Bildnis von sich, in dem der Einzelne sich als unverwechselbares Individuum und erfolgreichen Zeitgenossen darstellen konnte. Das Porträtfach wurde zur erfolgreichsten Erwerbsquelle der Daguerreotypisten. Anfang März 1841 eröffnete das weltweit erste kommerzielle Porträtatelier in New York, noch im selben Jahr etablierten sich Studios in Moskau, Wien und Paris.
 
Davor schon hatten die Bilder der Daguerreotypie Eingang in die Wissenschaften gefunden, wobei jene Erscheinungen bevorzugt erfasst wurden, die nicht mit freiem Auge auszumachen sind. Mithilfe des Fernrohrs wurden Sonne und Mond, durch das Mikroskop Schnitte durch Teile von Pflanzen oder Tieren aufgenommen. Wie in einer Enzyklopädie sollten alle sichtbaren Erscheinungen von Interesse festgehalten werden, damit sie als Bilder überall und jederzeit betrachtet werden konnten. Nicht die künstlerische Umsetzung war gefordert, sondern man nutzte die empirischen Fähigkeiten des neuen Aufnahmeverfahrens, das wie kein anderes Medium die Ansicht der vorgefundenen Phänomene vollständig und exakt wiederzugeben vermochte. Wegen ihrer »Einmaligkeit« galt die Daguerreotypie als kostbar, zugleich war es ihr größter Nachteil, dass sie ein Unikat darstellte. Deshalb gab es schon früh Anstrengungen, um die Bilder reproduzierbar zu machen. Nahezu gleichzeitig veröffentlichten zwei Ärzte, Joseph Berres (1796 bis 1844) in Wien und Alfred Donné (1801—1878) in Paris, im Frühjahr 1840 jeweils ein Ätzverfahren für Daguerreotypieplatten, wodurch diese eine Vervielfältigung im Kupfertiefdruck erlaubten. Doch waren die Herstellung solcher Druckvorlagen aufwendig und kostspielig und die Auflage begrenzt, sodass für Mappenwerke und zur Illustrierung der allermeisten Bücher weiterhin Lithographien, die nach Daugerreotypien ausgearbeitet wurden, zur Verwendung gelangten.
 
 Die Erfindung der Fotografie
 
Die Daguerreotypie war einerseits ein typisches Produkt der industriellen Revolution, die technische Mittel hervorbrachte, um die Natur — und sei es bildlich — weiter zu erobern, und ein Ergebnis positivistischen Denkens, das einzig die beobachtbaren Erscheinungen — und seien es Bilder — zur Erklärung der Welt gelten ließ. In ihrer aufwendigen Herstellungsweise, die zahlreiche Handgriffe erforderte, stand die Daguerreotypie andererseits noch in der Tradition handwerklicher Produktion. Auch konnte sie nicht den vorhandenen Ansprüchen an ein Medium für möglichst viele genügen, sondern propagierte einen elitären Gebrauch, indem der uneingeschränkte Zugang zu ihrem Bild auf einen einzigen Besitzer reduziert blieb. Dass ein breites Bedürfnis nach fotografischen Bildern im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts vorhanden war, zeigte sich vor allem auch daran, dass an mehreren Stellen unabhängig voneinander verschiedene Verfahren gefunden wurden.
 
Dem Beamten im Pariser Finanzministerium Hippolyte Bayard (1801-1887) gelangen am 20. März 1839 die ersten Bilder als Direktpositive auf Papier. Der Mineraloge Franz von Kobell (1803-1882) und der Mathematiker Carl August Steinheil (1801-1870), beide Professoren an der Universität München, fertigten im Frühjahr oder etwas früher mit einer von Steinheil konstruierten Kamera Negative auf Papier, die sich jedoch nicht in Positive umwandeln ließen. Es gab noch weitere Erfinder, aber nur ein einziges Verfahren, das sich langfristig durchsetzen sollte. William Henry Fox Talbot (1800-1877), ein begüterter, vielseitig interessierter englischer Privatgelehrter, beschäftigte sich neben anderem mit fotografischen Versuchen. Im Sommer 1835 entstanden die ersten Aufnahmen als Negative auf Papier; 1840 war das Verfahren so weit verbessert, dass brauchbare Abzüge gewonnen werden konnten. Diese Methode der Bilderzeugung und -vervielfältigung nannte man Kalotypie oder Talbotypie - sie stellt im Prinzip jenes Negativ-/Positivverfahren dar, welches bis heute als Fotografie bezeichnet wird.
 
Talbots Erfindung konnte sich zunächst nur begrenzt durchsetzen, was u. a. daran lag, dass die Abzüge auf Papier nicht so scharfe Bilder ergaben wie die Daguerreotypien. Nur in England, wo Daguerre seit 14. August 1839 ein Patent besaß und durch restriktive Lizenzvergabe bis 1843 die Daguerreotypie nur von wenigen ausgeübt werden konnte, war die Kalotypie das bevorzugte Verfahren. In den übrigen Ländern beherrschte die Daguerreotypie die Bildproduktion während der gesamten 1840er-Jahre, bis im darauf folgenden Jahrzehnt mit dem Aufkommen der Glasplatte als Negativträger alle übrigen Methoden nach und nach verdrängt wurden. Eine Reihe von ergänzenden Erfindungen erhöhte die Qualität der Bilder und ermöglichte die Wiedergabe nahezu jedes Motivs. 1841 entstanden bereits Aufnahmen mit einer Belichtungszeit von nur einer Sekunde. Ereignisse, Gebäude und Maschinen wurden ebenso aufgezeichnet wie Stadtansichten in Panoramaaufnahmen oder Aktstudien als Stereodaguerreotypen. Die Letzteren kolorierte man wie auch viele Porträts, um ihnen den Makel der Farblosigkeit zu nehmen und sie lebensechter zu gestalten. Daguerre machte nur noch selten Aufnahmen, meist Bildnisse von Verwandten und Freunden. Er hatte sich mit seiner Frau Ende 1839 nach Bry-sur-Marne unweit von Paris zurückgezogen, wo das Ehepaar einen ruhigen Lebensabend verbrachte. Daguerre malte, stattete 1842 die Kirche des Ortes mit einem Transparentgemälde aus, nahm an lokalen Geschehnissen aktiv Anteil. Der weltberühmte und vielfach geehrte Mann, seit Sommer 1839 Offizier der Ehrenlegion, empfing gelegentlich Besucher und saß manch einem Modell für ein Porträt. Er starb am 10. Juli 1851.
 
Daguerre hat zeitlebens nicht allzu viele Aufnahmen geschaffen, man weiß von höchstens 50 Ansichten, von denen sich nicht ganz die Hälfte erhalten hat. Was die kompositorischen Momente angeht, sind an den Bildern keine Besonderheiten festzustellen. Ohnehin kann das Werk Daguerres nicht mit ästhetischen Kriterien gemessen werden, lagen seine Fähigkeiten und Leistungen auf anderen Gebieten. Eigentlich darf er nur unter Vorbehalt als Erfinder tituliert werden, denn die ihm von Zeitgenossen wie der Nachwelt allein zugeschriebenen Neuerungen sind Weiterentwicklungen vorhandener Verfahren und Methoden; sein Anteil nur selten exakt zu bestimmen. Daguerre schuf jedenfalls das Diorama gemeinsam mit Bouton und den Doppeleffekt mit Sébron; die Daguerreotypie entsprang aus der Fortführung der Versuche von Niepce. Daguerre war vielmehr ein Entdecker, der frühzeitig erkannte, welche Einfälle viel versprechend waren und in welche Richtung sie zu verfolgen es lohnte. Er verhielt sich aber immer auch wie ein Geschäftsmann, der an die Gewinn bringende Ausbeute seiner Unernehmungen dachte. Insofern personifiziert er den modernen Vertreter dieser Epoche, der die Verbindung zwischen wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Progression suchte. Daguerre hatte ein Gespür dafür, dass die Menschen des industriellen Zeitalters Bilder benötigten, die der Wirklichkeit täuschend ähnlich sahen, sich zugleich aber vor diese stellten und von ihr wegführten in das Reich der Träume und Illusionen. In einer Phase, in der der Ablauf des täglichen Lebens sich zu beschleunigen begann, die Städte schnell wuchsen und starke Veränderungen erfuhren, das öffentliche Geschehen zunehmend in die privaten Räume drang, schuf Daguerre Bilder der Stille, die in Ruhe betrachtet werden konnten. Die Aufnahmen bewahrten einen vergangenen Augenblick und ermöglichten, ihn im Moment der Betrachtung als gegenwärtigen zu empfinden.
 
 
Helmut u. Alison Gernsheim: L. J. M. Daguerre. The history of the diorama and the daguerreotype. New York 21968.
 
Hommage à Daguerre, magicien de l«image, herausgegeben von Jean Roblin. Ausstellungskatalog Musée Adrien-Mentienne, Bry-sur-Marne. Bry-sur-Marne 1976.
 Georges Potonniée: Histoire de la découverte de la photographie et Daguerre, peintre et décorateur. Paris 1989.

Universal-Lexikon. 2012.

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